Damit Fassadenbegrünungen langfristig funktionieren, braucht es mehr als Pflanzen und Gestaltungsideen: Die ÖNORM L1136 legt fest, wie Begrünungen technisch und baulich richtig in Gebäude integriert werden.

Text Dipl.-Ing. Susanne Formanek, GRÜNSTATTGRAU Forschungs- und Innovations GmbH

Fassadenbegrünung – bauphysikalische Relevanz, Systematik und normgerechte Umsetzung

Begrünte Fassaden leisten weit mehr als nur ästhetische Beiträge zur Stadtgestaltung: Sie wirken als natürliche Schutzschicht für Gebäude, verbessern mikroklimatische Bedingungen, binden Feinstaub, reduzieren Schallreflexion und tragen zur thermischen Entlastung urbaner Räume bei. Darüber hinaus steigern sie nachweislich das Wohlbefinden der Bevölkerung – ein Aspekt, der in der Gebäudekonzeption zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Eine fachgerechte und dauerhaft funktionierende Fassadenbegrünung erfordert jedoch klare Qualitätskriterien. Die bauliche Integration muss normativ geregelt und praxisnah durchführbar sein. Mit der Veröffentlichung der ÖNORM L1136 im Jahr 2021 liegt erstmals ein europaweit gültiger Standard für Vertikalbegrünungen vor. Diese Norm ergänzt bestehende Richtlinien zur Dach- (ÖNORM L1131) und Innenraumbegrünung und schafft erstmals eine systematische Grundlage für Planung, Bau und Instandhaltung vertikaler Begrünungslösungen im Außenbereich.

Fassadenbegrünung

Systematisierung von Vertikalbegrünungen gemäß ÖNORM L1136

Die Norm unterscheidet fünf Begrünungskategorien, jeweils differenziert nach bauphysikalischem Aufbau und vegetationsspezifischer Interaktion mit der Gebäudehülle:

  1. Kategorie I – Bodengebundene Selbstklimmer
    Diese Variante nutzt die Eigenhaftung der Pflanzen mittels Haftscheiben oder Wurzeln (z. B. Hedera helix, Parthenocissus tricuspidata). Voraussetzung ist eine intakte, tragfähige Fassade mit direktem Bodenanschluss. Zur Lenkung des Pflanzenwuchses empfiehlt sich der Einbau von Überwuchsleisten.
  2. Kategorie II – Bodengebundene Begrünung mit Rankhilfen
    Für windende, rankende oder spreizklimmende Arten werden strukturierte Hilfselemente wie Seile, Gitter oder Netze verwendet. Die Unterkonstruktion kann wandgebunden oder freistehend vor die Fassade gesetzt werden. Die Bodenqualität muss auf Wurzelraum, Wasserverfügbarkeit und Nährstoffzufuhr abgestimmt sein.
  3. Kategorie III – Troggebundene Begrünung
    Diese Systeme ermöglichen eine Fassadenbegrünung ohne direkten Erdanschluss. Die Pflanztröge folgen dem mehrschichtigen Aufbau intensiver Dachbegrünungen (Drainschicht, Filtervlies, Vegetationstragschicht). Ihre Konstruktion muss UV-beständig, frostsicher und wurzelfest ausgeführt sein. Die Integration von Stauden, Gehölzen oder Kletterpflanzen ist möglich.
  4. Kategorie IV – Wandgebundene Systeme mit teilflächigen Vegetationsträgern
    Hierbei handelt es sich um vorgehängt-hinterlüftete Module mit eigenem Substrataufbau, meist als bepflanzte Pflanzwannen ausgeführt. Diese Systeme sind für eine gezielte, gestalterische Begrünung kleinerer Wandbereiche vorgesehen.
  5. Kategorie V – Wandgebundene Systeme mit vollflächigen Vegetationsträgern
    Diese Form stellt die technisch anspruchsvollste Variante dar: Vlies- oder Geotextilmodule werden vorkultiviert und in vollständiger Flächenabdeckung auf der Fassade installiert. Automatisierte Bewässerung und Nährstoffzufuhr sind unverzichtbare Bestandteile. Die bauphysikalische Wirkung umfasst unter anderem die Reduktion von Oberflächentemperaturen sowie eine verbesserte Dämmwirkung durch die zusätzliche Luft- und Vegetationsschicht.

 

Bauphysikalische Bedeutung und Anforderungen

Aus bauphysikalischer Sicht erfüllen begrünte Fassaden mehrere Funktionen:

  • Wärmeschutz: Die Begrünung reduziert die solare Einstrahlung auf die Gebäudehülle und senkt so die Außenwandtemperatur an heißen Sommertagen.
  • Feuchtepufferung: Pflanzen und Substrate wirken hygroskopisch und tragen zur Regulierung von Oberflächenfeuchte und Verdunstungskühlung bei.
  • Schallschutz: Je nach Systemtyp und Pflanzendichte können Schallreflexionen an der Fassade um bis zu 10 dB reduziert werden.
  • Luftqualität: Pflanzen nehmen COâ‚‚ auf, binden Feinstaubpartikel und leisten damit einen aktiven Beitrag zur Verbesserung des Mikroklimas.

 

Kategorien von Vertikalbegrünungen
© GRÜNSTATTGRAU

Qualitätssicherung und Pflege

Die ÖNORM L1136 definiert klare Anforderungen an Planung, Ausführung und Pflege. Neben statischen und bauphysikalischen Nachweisen sind regelmäßige Wartungszyklen, Schnitt- und Kontrollmaßnahmen sowie eine fachgerechte Bewässerungssystemtechnik erforderlich. Gerade bei wandgebundenen Systemen ist die Wartungsfreundlichkeit ein zentrales Kriterium für die langfristige Betriebssicherheit.


Pflege und Wartung von Fassadenbegrünungen – ein Schlüsselfaktor für bauphysikalisch wirksame Systeme

Die langfristige Funktionsfähigkeit von Fassadenbegrünungen steht und fällt mit der sachgerechten Pflege und Wartung. Trotz dieser Tatsache wird der Pflegeaufwand in der Praxis häufig unterschätzt oder gar als Hemmnis bei der Planung gewertet. Gerade im Kontext bauphysikalischer Anforderungen – wie thermischer Pufferung, Feuchteschutz oder mikroklimatischer Optimierung – ist jedoch klar: Nur eine gut gepflegte Begrünung kann ihr volles Potenzial entfalten.

Spezifische Pflegeanforderungen an vertikale Vegetationssysteme

Fassaden gelten aus pflanzenphysiologischer Sicht als Extremstandorte. Geringe Substratvolumina, Windlasten, direkte Sonneneinstrahlung sowie die räumliche Entfernung zum natürlichen Boden erfordern angepasste Pflegemaßnahmen. Hierzu zählen:

  • FassadenbegrünungRegelmäßige Wasserversorgung, idealerweise durch eine automatisierte Bewässerungsanlage, deren Einstellung an die Standortbedingungen und Pflanzenarten angepasst wird.
  • Nährstoffzufuhr, angepasst an Substrataufbau und Vegetationsansprüche.
  • Pflegeschnitt, zur Erhaltung der Form, zur Steuerung des Lichteinfalls und zur Vermeidung von Überwucherung technischer Einrichtungen.
  • Pflanzenführung, insbesondere bei Kletterpflanzen – etwa durch Anbinden, Stäben oder gezielte Wuchslenkung an Rankhilfen.

 

Insbesondere in der Einführungs- und Etablierungsphase ist eine engmaschige Betreuung erforderlich.
Die ÖNORM L1136 differenziert klar zwischen verschiedenen Pflegephasen:

  • Sichtkontrollen dienen der frühzeitigen Erkennung von Fremdbewuchs, Substratproblemen oder Schäden an Bauteilen.
  • Entwicklungspflege (ca. 2 Jahre): In dieser Phase stehen die Förderung des Anwuchses und die strukturelle Stabilisierung der Begrünung im Fokus. Dazu gehören regelmäßiger Rückschnitt, Anpassung der Bewässerungssteuerung sowie bedarfsweise manuelle Wassergaben bei Witterungsextremen.
  • Erhaltungspflege (ab Jahr 3): Langfristige Pflegearbeiten wie das Entfernen abgestorbener Pflanzenbestandteile, die Nachspannung von Rankelementen sowie die Entfernung von Laubablagerungen sichern die bauphysikalische Wirksamkeit über die gesamte Lebensdauer hinweg.

 

Technische und organisatorische Voraussetzungen

Für eine zuverlässige Pflegeausführung ist eine gesicherte Zugänglichkeit unerlässlich. Je nach Höhe und Fassadenstruktur sind geeignete Geräte (z. B. Leitern, Gerüste oder Hubsteiger) erforderlich. Bereits in der Planungsphase muss die Wartungsfreundlichkeit der Begrünungssysteme berücksichtigt werden – etwa durch Integration von Wartungsstegen, Zugangspunkten oder Fernüberwachungseinrichtungen bei automatischen Bewässerungen.

 

Tools

Normbasierte Werkzeuge zur Planung, Pflege und Dokumentation

Mit der ÖNORM L1136 stehen anwendungsorientierte Instrumente zur Verfügung, die die strukturierte Umsetzung und den Betrieb von Fassadenbegrünungen maßgeblich unterstützen:

Ein Sichtkontroll-Formblatt erlaubt eine einheitliche und nachvollziehbare Erfassung des aktuellen Zustands der Begrünungselemente – inklusive Pflanzenvitalität, technischer Ausstattung und möglicher Mängel.

Die Service-Level-Vereinbarung legt Pflegeumfang, Intervallhäufigkeit je Begrünungstyp sowie qualitative Anforderungen fest. Sie schafft Klarheit über die zu erwartenden Leistungen und unterstützt die vertragliche Regelung zwischen Auftraggeber und Dienstleister.

Ein Beispiel-Terminplan gliedert die Pflege in klar definierte Phasen – vom Probebetrieb über die Entwicklungs- bis hin zur Erhaltungspflege – und bietet eine praxisorientierte Orientierung für Betreiber und Wartungsverantwortliche.

 

Die positiven Wirkungen von Fassadenbegrünungen und grüne Gebäudehüllen als integrale Elemente klimaresilienter Stadtentwicklung

Die positiven Effekte von Bauwerksbegrünungen sind Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Untersuchungen – inzwischen liegen fundierte und vielfach validierte Forschungsergebnisse vor. Diese zeigen deutlich: Grüne Infrastrukturen an Gebäuden sind weit mehr als gestalterisches Element – sie erfüllen eine Vielzahl funktionaler Aufgaben in der Gebäudeoptimierung und im urbanen Kontext.

Durch gezielte bauliche Maßnahmen und strategisch geplante Begrünungskonzepte können Gebäude wirksam auf die Herausforderungen des Klimawandels reagieren. Vor allem Fassadenbegrünungen leisten dabei einen bedeutenden Beitrag. Im Vergleich zu konventionellen, unbegrünten Fassaden beeinflussen sie sowohl das direkte Gebäudeumfeld als auch den Baukörper selbst in mehrfacher Hinsicht:

  • Mikroklimatische Verbesserung und Steigerung der Aufenthaltsqualität im städtischen Raum
  • Regenwasserrückhaltung sowie Entlastung städtischer Entwässerungssysteme
  • Förderung der Biodiversität durch Schaffung neuer Lebensräume im verdichteten Siedlungsraum
  • Ausgleich ökologischer Defizite, etwa durch Ersatz versiegelter oder verschnittener Grünflächen
  • Thermischer Schutz durch Verschattung, evaporative Kühlung und zusätzliche Dämmwirkung
  • Schallminderung durch Absorption und Streuung von Lärmquellen an begrünten Flächen
  • Aktivierung vertikaler Flächenreserven für multifunktionale Nutzung – ökologisch, technisch, gestalterisch

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